Fünfte Reise Tag 48: In die Luft gefaltete Linien

Datum: 25. Juni 2025
Ort: Kaunas, Litauen
Kaunas wirkt bewusst gestaltet. Die Stadt ist in einem geradlinigen Raster mit offenen Flächen angelegt, wirkt aber nicht streng. Heute Nachmittag bin ich langsam durch den Teil der Stadt spaziert, der zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erbaut wurde. Die Architektur hier ist schlicht, aber nicht einfach. Sie zeichnet sich durch weiche Linien aus hellem Stein, lange horizontale Fenster und schlichte Verzierungen aus. Alles wirkt klar und ruhig.
Die Sonne schien heute hell, aber nicht stark. Sie warf klare Schatten entlang der Gebäudekanten, deren Formen durch die gelegentliche Bewegung der Blätter entlang der von Bäumen gesäumten Straßen leicht gemildert wurden. Die Fassaden der Gebäude reflektierten das Licht auf sanfte Weise, als würden sie einen Teil des Lichts sanft absorbieren und die Helligkeit verbreiten, anstatt sie zurückzuwerfen.
Mir fiel auf, dass hier die Proportionen entscheidend sind. Der Abstand zwischen den Fenstern, die Balance zwischen den massiven Wänden und den offenen Glasflächen, die Art und Weise, wie die Ecken ihr Gewicht tragen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – alles wirkt, als hätte jemand nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit Atem gemessen. Sogar das Tempo beim Gehen schien zu den sorgfältig gewählten Abständen zwischen Gebäuden und Bäumen zu passen.
Es gab Momente, in denen die Gebäude fast aus meinem Bewusstsein verschwanden – nicht weil sie unsichtbar waren, sondern weil sie sich nahtlos in den ruhigen Fluss der Straße einfügten. Hin und wieder flog ein Vogel über die oberen Fenster und ließ die Formen ein wenig undeutlicher werden.
Heute Nacht wird die Luft etwas kühler sein. Mein Fenster ist offen, und ich kann leise Schritte und gelegentlich das Summen vorbeifahrender Fahrräder hören. Ich erinnere mich noch an die Zeilen aus meinem heutigen Spaziergang – sie waren nicht dramatisch, aber sie waren beständig, als würden sie sanft einen ruhigen inneren Raum markieren, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Die Einfachheit hier fordert nichts, sie lässt zu.