Fünfte Reise, Tag 62: Die Skizze, die verblassen wird

Datum: 9. Juli 2025
Ort: Soroca, Moldawien
Das Licht kam heute nie ganz zum Vorschein. Ein grauer Schleier legte sich über die Stadt und blieb liegen. Ich ging langsam vom Gästehaus zur Festung. Ich suchte nichts Bestimmtes. Ich folgte einfach der Richtung des Steins. Die Festung Soroca sieht aus, als würde sie den Atem anhalten: rund, abgeschieden von der Welt und schlicht. Es gab kaum Besucher. Die Frau an der Kasse sah mich an, sagte aber nichts. Ich bezahlte und ging hinein.
Im Inneren fühlte sich die Luft kühler an und die Geräusche waren leiser. Ich blieb im mittleren Innenhof stehen und schaute durch den offenen Kreis des Himmels nach oben. Die Türme waren symmetrisch, aber nicht perfekt – einige Winkel schienen durch die Zeit oder den Wiederaufbau leicht verzerrt zu sein. Ich fuhr mit meinen Fingern über eine Wand, die noch immer die gleiche Struktur hatte wie damals, als sie vor langer Zeit von Arbeitern gemeißelt worden war. Tauben flatterten über mir, ihre Flügelschläge hallten laut in dem kleinen Raum wider.
Ich dachte, etwas würde passieren, aber das tat es nicht. Dann wurde mir klar, dass es genau das war, was die Geschichte bezwecken wollte. Ich war nicht hier, um angeregt zu werden. Ich war hier, um in einer alten Form zu stehen und die stille Mathematik des Steins zu spüren. Es gab einen Moment am Rand, als ich mich vorbeugte und den Dnister unter mir vorbeifließen sah, eine dicke grüne Kurve. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass nicht der Fluss sich bewegte, sondern das Land.
Später saß ich auf einer kurzen Steinbank in der Nähe des Ausgangs und skizzierte die sich wiederholenden Dreiecke der Turmdächer. Die Skizze ist nicht erhalten geblieben, da das Papier zu dünn und mein Bleistift zu schwach war, aber das Skizzieren selbst war genug.
Das Abendessen war einfach: Brot, Gurke und Weichkäse. Ich sah zu, wie sich der Himmel von blassgrau zu einem tieferen Blauton veränderte und dann die Ränder verschwanden.
Nicht jeder Tag muss erklärt werden. Manche Tage sind einfach da – wie ein Kreis aus Stein, der ein Stück Himmel umschließt.