Fünfte Reise, Tag 88: Kind mit Spiegel, Straße mit Himmel

Datum: 4. August 2025
Ort: Nukus, Usbekistan
Ich bin heute Morgen mit dem frühen Zug in Nukus angekommen. Der Wechsel von Chiwa zu dieser Stadt war wie der Wechsel von einem geschäftigen, überfüllten Ort zu einem weniger geschäftigen. Es war, als wäre die Stadt noch nicht ganz fertiggestellt. Die Straßen sind breit und ruhig, und die Landschaft wirkt natürlich, einfach und unberührt. Diese Schlichtheit hat etwas Authentisches – es geht nicht darum, zu beeindrucken oder zu verbergen, sondern einfach nur darum, echt zu sein.
Ich verbrachte ein paar Stunden im Savitsky-Museum. Es fühlte sich an, als würde ich einen abgeschlossenen Raum inmitten einer größeren Stille betreten. Gemälde, die vor dem Vergessen bewahrt wurden – seltsame Formen, scharfe Traurigkeit und starke Gefühle, gemalt, um die Gefahr herauszufordern oder zu ignorieren. Ich stand vor einem Bild, das wie eine Erinnerung an die Wüste aussah. Das Museum war fast leer. Es gab ein leises Klopfen gegen das Glas und einen schwachen Geruch von gealtertem Lack.
Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, war nicht ein bestimmtes Kunstwerk, sondern das Gefühl, in einem Raum voller Stimmen zu sein, die einst zum Schweigen gebracht worden waren. Jetzt summten diese Stimmen leise, unbeeindruckt davon, dass niemand ihnen zuhörte. Ich machte mir keine Notizen. Ich betrachtete nur die Pigmente. Ihre Hartnäckigkeit. Ihr Überleben.
Auf dem Rückweg fiel mir ein Kind auf, das einen Spiegel trug. Der Spiegel war größer als das Kind. Das Kind zog den Spiegel mit beiden Händen über die Straße. Das Spiegelbild war verzerrt. Es war voller Staub und Himmel. Es spielte nicht, es bewegte ihn nur hin und her. Es war, als hielte es ihn für etwas Notwendiges. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken.
Nukus ist keine konventionell schöne Stadt. Sie wirkt wie ein Echo, das darauf wartet, etwas Neues zu werden. Vielleicht war es das, was ich heute brauchte – keine weiteren Reize, sondern einfach einen Ort, an dem ich mich entspannen kann.
Morgen werde ich malen.